Von der Heldenreise zum Teamdialog: Warum Organisationen neue Geschichten brauchen

Führung & Wandel

Neulich fragte mich eine Führungskraft: „Wie erzähle ich meinem Team die eine klare Story, damit alle wissen, wo es langgeht?“

Die Sehnsucht dahinter kenne ich. In einer komplexen, unübersichtlichen Arbeitswelt wünschen sich viele Führungskräfte und Teams eine große, einfache Erzählung. Etwas, das Orientierung gibt.

Doch genau da liegt das Problem: Diese „eine“ Geschichte gibt es oft gar nicht mehr. Und wenn wir sie trotzdem erzählen, dann meist in Form einer klassischen Heldenreise. Der oder die eine soll den Weg weisen, das Team folgt. Klingt nach Klarheit – führt aber in modernen Organisationen häufig in die Sackgasse.

Mich hat dazu ein Artikel von Dark Horse inspiriert („Dialog statt Heldenreise“). Er hat mir noch einmal deutlich gemacht: Wir brauchen neue Narrative. Geschichten, die nicht von einem einsamen Helden handeln, sondern von vielen Stimmen. Von Dialog, Komplexität und Zusammenarbeit.

Warum die Heldenreise nicht mehr trägt

Die Heldenreise hat in Filmen und Geschichten ihren Platz. Sie funktioniert, weil sie einfach ist: eine klare Ausgangslage, ein Konflikt, ein Held oder eine Heldin, die sich durchkämpft und am Ende siegt. Viele Führungskräfte greifen – oft unbewusst – auf dieses Muster zurück. Sie sollen die Richtung vorgeben, Hindernisse überwinden, das Team motivieren.

Das Problem: Organisationen sind keine Drehbücher. Sie sind komplexe Systeme mit vielen Perspektiven, wechselnden Rahmenbedingungen und offenen Enden. Die Heldenreise blendet diese Komplexität aus. Sie reduziert Vielfalt auf eine einzige Sichtweise.

In der Praxis führt das schnell zu Schieflagen:

  • Überforderung einzelner Führungskräfte, die glauben, alles allein tragen zu müssen.
  • Passivierung von Teams, die auf den einen „Rettungsplan“ warten, statt selbst Verantwortung zu übernehmen.
  • Schwarz-Weiß-Denken, das für die Komplexität der realen Arbeitswelt zu simpel ist.

Ich erlebe, dass genau hier Frust entsteht. Führungskräfte erschöpfen sich im Versuch, der große Erzähler oder die große Retterin zu sein. Teams wiederum bleiben unter ihrem Potenzial, weil ihre Stimmen in dieser Erzählung nicht vorgesehen sind.

Ein Beispiel aus der Praxis

Vor einiger Zeit arbeitete ich mit einem mittelständischen Technikunternehmen. Die Geschäftsführung erzählte stolz, sie habe „der Mannschaft die Story“ geliefert: einen klaren Masterplan für die nächsten fünf Jahre (mindestens), mit Meilensteinen und Erfolgsgeschichte. Anfangs wirkte das motivierend – doch nach einigen Monaten kam Ernüchterung.

Die Realität wich vom Plan ab: Märkte veränderten sich schneller als gedacht, ein wichtiges Projekt scheiterte, neue Chancen tauchten an unerwarteter Stelle auf. Das Team war irritiert – schließlich passte all das nicht in die schöne Heldenstory. Anstatt gemeinsam neue Antworten zu entwickeln, entstand Stillstand: Alle warteten auf die nächste Ansage von oben.

Genau das zeigt, warum die Heldenreise im Organisationsalltag gefährlich sein kann: Sie schafft eine Illusion von Sicherheit – und verhindert gleichzeitig die Fähigkeit, auf Komplexität flexibel zu reagieren.

Organisationen brauchen dialogische Erzählungen

Wenn die Heldenreise zu kurz greift – was dann?

Statt der einen großen Geschichte brauchen Organisationen heute Erzählungen, die mehrstimmig, offen und dynamisch sind. Ich nenne sie dialogische Narrative.

Ein dialogisches Narrativ funktioniert anders:

  • Es gibt nicht die eine Stimme, sondern viele.
  • Geschichten entwickeln sich fortlaufend, im Austausch zwischen Menschen.
  • Widersprüche, Brüche und verschiedene Perspektiven sind kein Makel, sondern Teil der Erzählung.

Solche Narrative passen viel besser zu hybrider, digitaler und komplexer Arbeit. Denn moderne Zusammenarbeit lebt von Vernetzung, Vielfalt und Selbstverantwortung. Dialogische Erzählungen ermöglichen genau das: Sie schaffen Raum, in dem unterschiedliche Erfahrungen und Ideen sichtbar werden.

Im Kern geht es nicht um „die Story von oben“, sondern um gemeinsames Erzählen. Ein Team, das seine eigene Geschichte aushandelt, gewinnt Orientierung – nicht weil einer alles vorgibt, sondern weil viele beteiligt sind.

Das verändert auch die Rolle von Führung: von der einsamen Heldin hin zum Impulsgeber, Zuhörer und Möglichmacher. Wer Führung übernimmt, sorgt nicht für das perfekte Narrativ, sondern dafür, dass ein Dialog über die Zukunft stattfinden kann.

Von der Theorie in die Praxis

So überzeugend die Idee klingt: Ein dialogisches Narrativ entsteht nicht automatisch. Es braucht bewusste Räume, in denen Teams ihre Geschichten erzählen können – und Strukturen, die diese Vielfalt nicht nur zulassen, sondern nutzen.

Genau hier zeigt sich der Unterschied zwischen alter und neuer Führung:

  • Früher war die Aufgabe, den Plan zu verkünden.
  • Heute ist die Aufgabe, Dialoge zu ermöglichen – und so neue gemeinsame Geschichten wachsen zu lassen.

Die Frage ist also nicht: „Welche Story erzähle ich meinem Team?“

Sondern: „Wie schaffen wir es, unsere Geschichten miteinander zu teilen – und daraus Orientierung zu gewinnen?

Von Heldengeschichten zu Team-Dialogen

Ein neues Narrativ entsteht nicht am Reißbrett. Es wächst im Alltag – in Meetings, Chats, Kaffeepausen, Retrospektiven. Entscheidend ist, wie Teams ins Gespräch kommen und welche Fragen sie sich stellen.

Drei konkrete Ansätze, die ich in meiner Arbeit erlebe und empfehle:

  1. Reflexionsfragen als Türöffner

Oft braucht es nur die richtige Frage, um andere Stimmen hörbar zu machen. Zum Beispiel:

  • „Welche Geschichte erzählen wir uns gerade über unser Projekt – und stimmt sie noch?“
  • „Welche Stimmen fehlen in dieser Geschichte?“

Solche Fragen fördern Selbstorganisation und machen sichtbar, wie sehr Narrative unsere Zusammenarbeit prägen .

  1. Feedbackrunden statt Statusberichte

Statt den Fortschritt als Heldengeschichte zu präsentieren („Wir haben es geschafft, trotz aller Hindernisse!“), wirkt ein dialogischer Ansatz viel stärker: kurze Feedbackrunden im Team, mit klaren Leitfragen wie „Was lief gut? Wo haken wir noch?“ .

So entsteht ein gemeinsamer Lernprozess – und das Team schreibt seine Geschichte fort.

3. Storytelling im Kleinen

Dialogische Narrative brauchen keine großen Präsentationen. Schon im Alltag lassen sich Routinen etablieren:

  • Ein „Check-in“ im Meeting mit der Frage: „Welche Geschichte bringst du heute mit?“
  • Eine Retro, in der nicht nur Zahlen, sondern auch kleine Erlebnisse geteilt werden.
  • Emojis, Symbole oder visuelle Marker in digitalen Tools, die Orientierung schaffen .

Wenn Teams lernen, ihre Erfahrungen nicht nur als Fakten, sondern als Geschichten zu teilen, entsteht ein lebendiger Dialog. Und das wiederum gibt Halt – ganz ohne Heldin oder Helden.

Selbstorganisation braucht gemeinsame Geschichten

Selbstorganisation wird oft so verstanden: Jede:r organisiert sich für sich selbst, möglichst effizient, mit Kalender, To-do-Listen und Fokuszeiten. Das stimmt – aber nur zur Hälfte.

Denn Selbstorganisation entfaltet ihre Wirkung erst dann, wenn sie in ein gemeinsames Narrativ eingebettet ist. Wenn klar ist, wofür wir unsere Energie bündeln, welche Geschichte uns trägt und welche Rollen wir jeweils spielen.

In meinem E-Book Produktiv leben, klar arbeiten betone ich, wie wichtig Klarheit über Ziele, Rollen und Prioritäten ist . Doch diese Klarheit darf nicht nur individuell existieren – sie muss geteilt werden.

Ein Team funktioniert nicht, wenn jede:r für sich „gut organisiert“ ist, aber alle an unterschiedlichen Geschichten arbeiten.

Dialogische Narrative bieten hier die Klammer:

  • Sie geben Sinn, ohne starre Pläne vorzuschreiben.
  • Sie verbinden individuelle Selbstführung mit kollektiver Orientierung.
  • Sie helfen, Selbstorganisation nicht als „jeder für sich“, sondern als „wir für uns“ zu leben.

Ein Beispiel: Wenn sich ein Team darauf einigt, dass seine Geschichte gerade nicht die des „Heldenprojekts“ ist, sondern die der „lernenden Organisation“, dann verändert das, wie Aufgaben priorisiert, wie Fehler behandelt und wie Erfolge erzählt werden.

So wird Selbstorganisation zu mehr als effizienter Einzelarbeit – sie wird zu einem gemeinsamen Prozess, getragen von einer Geschichte, die alle mitgestalten.

Welche Geschichten erzählen wir uns?

Am Ende bleibt eine einfache, aber wichtige Frage: Welche Geschichten erzählen wir uns eigentlich in unserem Team – und sind es die richtigen?

Sind es Heldengeschichten, die Druck erzeugen und wenige überlasten? Oder Dialoggeschichten, die Vielfalt sichtbar machen und Orientierung geben?

Mich hat der Artikel von Dark Horse dazu inspiriert, genauer hinzuschauen. Und ich erlebe: Narrative sind kein „weiches Thema“. Sie prägen, wie wir arbeiten, wie wir Entscheidungen treffen, wie wir uns organisieren.

Wenn du Lust hast, dieses Thema in deinem Team anzustoßen, probiere es mit kleinen Schritten:

  • Stelle im nächsten Meeting eine Reflexionsfrage.
  • Testet eine Feedbackrunde statt eines Statusberichts.
  • Klärt, welche Kommunikationsformen ihr für welche Geschichten nutzt.

Für genau solche Impulse habe ich u. a. meine Eigensinn-Reflektionskarten entwickelt – oder die Kommunikationsrichtlinie für Microsoft Teams. Sie helfen, neue Dialoge zu öffnen und gemeinsame Erzählungen zu gestalten.

Denn Klarheit und Selbstorganisation entstehen nicht allein durch Tools – sondern durch die Geschichten, die wir miteinander teilen.

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